print logo

Keine Extrawürste!

Die Gleichbehandlung konterkariert und vernichtet das Individuelle. Sind wir auf dem Weg in einen Termitenhaufen?
Ulf D. Posé | 26.05.2016
Lukas ist empört. Da hat doch sein Vorgesetzter als seinen Nachfolger Alex vorgeschlagen. Dabei ist Alex genauso lange im Betrieb wie er. Nach Lukas Meinung sollte er das gleiche Recht haben, befördert zu werden. Hat er sicher auch, nur war Alex mit seinen Fähigkeiten der bessere Mann für den Vorgesetzten. Lukas ist anscheinend noch nicht einmal in die engere Wahl gekommen. Ist das gerecht? Lukas findet nein.
Wir wollen alle gleich behandelt werden. Das ist sicher eine weit verbreitete Ansicht in der Bevölkerung, nicht nur im Management. Gleiches Recht für alle; wer kennt den Spruch nicht? Wir wagen kaum noch darüber nachzudenken, so selbstverständlich ist uns diese Ansicht. Aber vielleicht ist genau diese Ansicht der Grund dafür, dass wir vor Gericht keine Gerechtigkeit erfahren, sondern nur ein Urteil bekommen. Obwohl zugegebenermaßen Richter durchaus die persönlichen Voraussetzungen eines Angeklagten in ihr Urteil einfließen lassen. Noch, möchte ich anmerken.
Es ist nicht so ganz einfach, wenn wir Gerechtigkeit und Gleichheit fast schon synonym gebrauchen. Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Das Soziale wird immer bedeutsamer, und das Individuelle bleibt langsam aber sicher auf der Strecke. Ich habe nichts gegen die Sozialität, sie ist Teil eines jeden Menschen. Ich habe nur etwas gegen den unmerklich stattfindenden Austausch. Denn die Sozialität des Menschen kann von anderen Menschen und sozialen Systemen missbraucht werden. Die Kollektivierung ist eine solche Form des Missbrauchs, in der ein Mensch sich wie ein Fisch im Schwarm oder eine Ameise im Staat verhält. Das meint: mit Zunahme der Sozialität nimmt die Berechtigung des Individuellen ab. Es scheint, als ob Konformität in immer mehr Unternehmen die entscheidende Rolle beim Umgang mit Mitarbeitern einnimmt. Wir sind aber nicht alle gleich. Wir haben alle unterschiedliche Fähigkeiten, unterschiedliche Interessen, unterschiedliches Aussehen. Im biologischen Bereich können wir das gerade noch akzeptieren. Männer werden wohl nie Kinder kriegen können; adoptieren ja, gebären nein. Die Natur hat etwas dagegen. Wenn in einem Betrieb nun eine Mutter alleinerziehend ist, und ihr Kind krank, dann kann oder sollte sogar ihr Chef sie nicht gleich behandeln wie Mitarbeiter, die keine Kinder haben. Dann sollte ihr Chef nichts dagegen haben, wenn die junge Mutter aufgrund der Krankheit ihres Kindes mehrere Tage später im Büro erscheint. Dann kann und darf das nicht die Voraussetzung dafür sein, dass sich ein kinderloser Mitarbeiter darüber beschwert, weil er halt nicht später kommen darf.
Manche Gleichbehandlungsforderungen können einem schon auf den Geist gehen. Ich erinnere ein Unternehmen, das für das Management ein Schulungsprogramm durchführen wollte, an dem auch die Chefsekretärin teilnehmen sollte. Gründe dafür gab es genug. Die Chefsekretärin hatte nahezu täglich mit dem gesamten Management immer wieder zu tun. Ihr Vorgesetzter wollte, dass die Sekretärin den Entwicklungsprozess mitmachte, damit auch sie die aus dem Programm gelernten Erkenntnisse in den Umgang mit dem restlichen Management mit einfließen lassen konnte. Der Vorgesetzte versprach sich eine Optimierung in der Kommunikation. Allerdings waren Seminare in diesem Unternehmen mitbestimmungspflichtig. Dieses Programm durfte nicht durchgeführt werden, da der Betriebsrat forderte, dass alle Sekretärinnen gleich zu behandeln sind, und damit auch alle anderen Sekretärinnen an diesem Programm ebenfalls teilnehmen müssten. Dazu kam es nicht. Das Programm wurde zwar schlussendlich durchgeführt, allerdings ohne Teilnahme der Chefsekretärin. Der Betriebsrat fand das völlig in Ordnung und nur gerecht. Keine Extrawürste!
Das Dumme an der Sache ist, dass Gleichbehandlung und Gerechtigkeit nichts miteinander zu tun haben. Damit das richtig verstanden wird: ich habe nichts gegen das Grundprinzip der Gleichbehandlung. Es ist sicher richtig und ethisch vertretbar, dass die gleichen Voraussetzungen im Prinzip für alle gelten. Dann jedoch gilt es, die individuellen Eigenheiten mit zu berücksichtigen. Nur dann kann Gleichbehandlung auch der Gerechtigkeit entsprechen. Gerechtigkeit ist nach Ulpian immer noch der feste Wille, einem jeden Menschen sein Recht zukommen zu lassen. Das sollte ich gleichermaßen bei allen Menschen gelten lassen. Das ist der wahre Gleichbehandlungsgrundsatz. Ich behandle jeden Menschen dann gleich, wenn ich jedem auch sein Recht zukommen lasse, und nicht rücksichtslos den Kamm der Sozialität über ihn schere.
In der Kindererziehung gibt es noch dieses ausgewogene Verhältnis von Gleichbehandlung und Gerechtigkeit. Eltern wissen sehr wohl, wie unterschiedlich ihre Kinder sind. Und diese Unterschiedlichkeit lassen sie in die Erziehung einfließen. Gleichbehandlung findet dann statt, wenn zum Beispiel jedem Kind versprochen wird, mit dem 15. Lebensjahr bekommst Du ein neues Jugendzimmer. Aber sehen die Zimmer anschließend gleich aus? Nein, hier greift dann die Gerechtigkeit, indem jedes Kind sein Zimmer ausgestattet bekommt, das seinen Wünschen entspricht.

Schon Teilhard de Chardin hatte in den 60er Jahren die Befürchtung, dass im Rahmen der Evolution wir Menschen auf dem Weg zu einem Termitenstaat sind. Alle werden absolut gleich behandelt. Wenn Teilhard de Chardin Recht behalten sollte, dann sind wir irgendwann als Lebewesen nicht mehr einzelne Menschen, sondern das Lebewesen ist dann die gesamte Menschheit. In der eher bedenkenlosen Forderung nach absoluter Gleichbehandlung sind wir vielleicht schon mächtig auf dem Weg dazu.
Wenn wir aufhören, das Individuelle der Menschen in unseren Entscheidungen zu berücksichtigen, dann ist das ethisch äußerst fragwürdig, denn es bleibt der einzelne Mensch auf der Strecke.

Ulf Posé