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Keine Angst vor großen Worten - 5 Merkmale wirkungsvoller Geschichten

Eine gute Geschichte ist besser als jedes gute Argument. Storytelling kann man lernen.
René Borbonus | 13.06.2014
Stellen Sie sich vor – es wird Ihnen nicht schwer fallen – Sie bereiten eine Rede vor und recherchieren Ihr Thema. Nun stehen Sie vor der folgenden Wahl: Sie können sich dem Stapel von Fachbüchern, Statistiken und Experten-Interviews widmen, den Sie zu diesem Zweck angehäuft haben. Oder Sie können sich ein Video anschauen, das das gleiche Thema, die gleiche Faktenlage, in Form einer exemplarischen Geschichte behandelt. Vielleicht ist es eine besonders gut gemachte Reportage über einen Einzelfall; oder die Rede eines Experten, der seine Botschaften in brillantes Storytelling verpackt und den Statistiken damit ein Gesicht gibt. Wofür würden Sie sich entscheiden?
Natürlich schauen Sie sich viel lieber das Video an. Und damit treffen Sie, aus didaktischer Sicht, genau die richtige Entscheidung. Die wenigsten von uns können als Erwachsene noch ein Dutzend Formeln aus dem Physikunterricht herunterrattern. Ein Dutzend Geschichten aufzuzählen, die uns aus der Kindheit im Gedächtnis geblieben sind, wird uns dagegen weitaus leichter fallen. Geschichten sind nachhaltiger als Theorie. Sie bieten den größeren Lerneffekt, weil sie uns verstehen helfen, und weil sie uns Bilder in den Kopf setzen.

Storytelling: Ein Mythos, der keiner ist
Was für Kinder gilt, trifft genauso auf Erwachsene zu: Geschichten helfen uns die Welt zu verstehen. Deshalb blicken wir auf zu den Geschichtenerzählern. Sie erfüllen uns einen Wunsch, den wir gar nicht mehr laut zu äußern wagen, wenn wir erst einmal den Kinderschuhen entwachsen sind: dass sich jemand die Mühe macht, uns die Welt mit Hilfe von Geschichten zu erklären. Oder ist Ihre Welt etwa einfacher geworden, seit Sie auf eigenen Beinen stehen?
Unsere Bewunderung für Geschichtenerzähler hat jedoch auch eine Kehrseite: Viele glauben, dass ihre Fähigkeit eine Gabe sei, die nur wenigen gegeben ist. Das Storytelling wird oft als Talent eingestuft – man hat es, oder man hat es eben nicht. Doch das ist ein Mythos. Storytelling ist nicht weniger als eine zentrale menschliche Tradition, und es ist uns praktisch in die Wiege gelegt. Wenn Sie mit Ihrer Frau oder Ihrem Mann abends den Tag Revue passieren lassen, dann erzählen Sie Geschichten. Wenn Sie Ihren Kindern von Ihrer eigenen Kindheit erzählen, dann erzählen Sie Geschichten. Sogar, wenn Sie im Bekanntenkreis von dem Film erzählen, den Sie vorige Woche im Kino gesehen haben, dann erzählen Sie eine Geschichte.
Sogar für Redner, die Schwierigkeiten damit haben – oder schlicht keine Lust –, sich eine mehr oder weniger logische Argumentationskette einzuprägen oder Aufzeichnungen zu verwenden, ist Storytelling geeignet. Eine Geschichte können wir aus dem Stegreif wiedergeben. Storytelling ist viel natürlicher, als unsere Zuhörer unter einer Zahlen- und Faktenlawine zu begraben, die zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgeht. Mit Geschichten stellen Sie als Redner sogar weitaus leichter eine Verbindung zum Publikum her als mit anderen rhetorischen Mitteln.

Worauf Sie achten können: Die Merkmale einer guten Geschichte
Ich verstehe den Einwand: Lieber keine Geschichte erzählen, als sich mit einer schlechten Geschichte zu blamieren. Doch genau diese Scheu möchte ich Ihnen nehmen: Gutes Storytelling ist kein Geheimnis, sondern eine rhetorische Methode, die bestimmten Regeln folgt. Natürlich gibt es beim Storytelling, wie bei jeder Kunst, echte Meister, deren Reden uns buchstäblich vom Sitz reißen – sie haben lange an ihrer Redetechnik gearbeitet. Wie bei jeder Kunst sind es diese Meister, an denen wir uns orientieren können.
Es ist nur eine Handvoll von Merkmalen, die wir kennen müssen, um aus unserem persönlichen Repertoire an Anekdoten wirkungsvolle Geschichten zu machen. Der Rest ist Übung und Feinschliff. Gewiss, es gibt unendlich viele Möglichkeiten, eine gute Geschichte noch besser zu machen. Doch wer die Grundmerkmale einer guten Geschichte kennt und anwendet, verfügt über die Grundkenntnisse, um seine Reden durch gutes Storytelling aufzuwerten.
In einem stimmen Sie mir sicher zu: Das Leben ist zu kurz für schlechte Geschichten. Also schauen wir uns eine gute an! Ein Paradebeispiel für eine wirkungsvolle Story ist die Geschichte der Tänzerin und Choreografin Gillian Lynne, die während ihrer Schulzeit als „hoffnungsloses“ Kind galt. Die Prognose des Schulsystems: Sie würde es nie zu etwas bringen. Es kam anders: Gillian Lynne machte ihren Abschluss beim Royal Ballet in London, gründete eine eigene Tanzschule, traf Andrew Lloyd Webber, choreografierte Cats und andere Musical-Welterfolge, hat Millionen von Menschen unterhalten und ist heute Multimillionärin. Dieses Beispiel aus dem Repertoire des begnadeten Storytellers und Bildungsexperten Ken Robinson möchte ich nutzen, um Ihnen die Merkmale einer guten Geschichte zu veranschaulichen.

Merkmal 1: Einfach
Eine gute Story ist einfach. Storytelling wirkt, im Gegensatz zu Fakten und logischen Argumenten, emotional – oft sogar unterbewusst. Damit das funktioniert, muss die Geschichte leicht nachvollziehbar sein. Enthält sie ein kompliziertes Geflecht aus Handlungssträngen, Konflikten und Charakteren, verwirrt sie die Zuhörer und zwingt sie zum Nachdenken. Weil sie damit beschäftigt sind, die losen Enden zu verknüpfen, werden sie vom emotionalen Gehalt der Geschichte abgelenkt, und der wertvolle Zugang zum Herzen der Zuhörer, der dem Redner allein durch die Ankündigung einer Geschichte offen steht, bleibt ungenutzt. Eine Story darf deshalb nie zum Selbstzweck werden – sie ist ein Bedeutungsträger, wie ein Botenstoff in der Biologie. Letztendlich dient das Storytelling dazu, Ihre Botschaft zu transportieren.
Ken Robinsons Geschichte über Gillian Lynne ist im Kern denkbar einfach gestrickt und gerade deshalb geeignet, eine Botschaft zu untermauern. Die Ausgangssituation der Protagonistin lässt sich in ganz einfachen Worten beschreiben: Gillian Lynne galt in ihrer Schulzeit als hoffnungslos, weil sie nicht stillsitzen konnte und Schwierigkeiten hatte, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren. Robinson fand jedoch eine noch einfachere Beschreibung für das unruhige Kind, das jedem Zuhörer sofort ein Bild in den Kopf setzte: „Heute würde man vermutlich sagen, sie hatte ADS.“ Was danach folgt – die Geschichte vom kometenhaften Aufstieg Gillian Lynnes zum Star der Tanzszene – ist nichts anderes als eine Variation auf das simple Motiv vieler Erfolgsgeschichten nach dem Muster „vom Tellerwäscher zum Millionär“: ein Außenseiter, der Erfolg hat.

Merkmal 2: Unerwartet
Auch in der einfachsten Geschichte ist Platz für Überraschungen. Und der ist auch notwendig: Eine gute Geschichte braucht ein Überraschungsmoment. Es fesselt die Aufmerksamkeit des Publikums und sorgt dafür, dass die Spannung gehalten wird, die allein durch die Ankündigung einer Geschichte aufkommt.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Überraschungen in eine Geschichte einzubauen. In Hollywood-Filmen erleben wir oft eine überraschende Wendung in der Handlung, meist kurz vor Ende der Geschichte. Möglich sind Überraschungen jedoch auch auf der Faktenebene, der Stilebene oder im Verhalten der Charaktere. Wo das Überraschungsmoment auch ansetzt, die Methode ist immer die gleiche: Die Erwartungshaltung des Publikums vorauszusehen und ihr diametral zu widersprechen.
In Ken Robinsons Geschichte von Gillian Lynne liegt das Überraschungsmoment auf der Handlungsebene. Die Geschichte vom hoffnungslosen Kind beginnt mitleiderregend. Der Redner lässt das Publikum für einige Zeit im Glauben, das vermeintlich lerngestörte Kind sei zwangsläufig zu einem tragischen Schicksal verdammt, da das stereotype Schulsystem ihm keinerlei Unterstützung bietet. Doch dann kippt durch den Besuch bei einem Therapeuten, der Lynnes Natur erkennt, schlagartig alles zum Guten, und aus dem tragischen Schicksal wird eine glänzende Erfolgsgeschichte.

Merkmal 3: Konkret
Genau an diesem Punkt der Geschichte trifft Robinson auch ein weiteres Merkmal guter Geschichten auf den Punkt, denn das Ergebnis von Lynnes Besuch beim Therapeuten mit ihrer Mutter ist nicht nur überraschend, sondern auch absolut konkret. Robinson hätte statt diesem Besuch auch argumentativ ausholen und seinen Zuhörern einen Vortrag über die unzähligen Studien und Forschungsergebnisse halten können, die es zu diesem Thema gibt. Auch sie belegen, dass bei vielen vermeintlich lerngestörten Kindern in Wirklichkeit nur andere Fähigkeiten besser ausgeprägt sind als jene, auf die das etablierte Bildungssystem Wert legt: theoretisches Wissen vs. Anwendungskompetenz, Auswendiglernen vs. Kreativität, Formeln vs. Vorstellungsvermögen … Sie merken schon: sachlich die richtige Richtung, jedoch reichlich unkonkret. Wenn es gilt jemanden zu überzeugen, ist nicht Quantität gefragt, sondern Qualität: das maximal konkrete Beispiel. Das lieferte Robinson, als er Lynnes Therapeuten folgendes zu ihrer verzweifelten Mutter sagen ließ: „Mrs. Lynne, Gillian ist nicht krank. Sie ist eine Tänzerin.“
Gillians Tanztalent bringt die Botschaft auf einen absolut konkreten Nenner: Das ganze Dilemma des Bildungssystems spiegelt sich in dieser einen persönlichen Fähigkeit eines einzelnen kleinen Mädchens, und wird dadurch viel deutlicher als in der konzisesten Statistik. Etwas konkret zu machen heißt, das Große in kleine Teile zu brechen, damit es leichter verdaulich wird; Komplexes in klare Symbole zu übersetzen, damit es verständlich wird; Abstraktes in die Lebenswelt der Zuschauer zutragen, damit sie es mit einer Vorstellung abgleichen können, die sie aus eigenem Erleben kennen.

Merkmal 4: Glaubwürdig
Glaubwürdigkeit wird oft mit Autorität verknüpft. Doch diese Rechnung geht nicht immer auf: Im Rahmen einer Geschichte sind die Instinkte des Publikums hellwach, weil es die Protagonisten intuitiv nach Sympathie beurteilt. Menschen können sich besser mit Figuren identifizieren, die ihnen ähnlich sind und deren Lebensumstände sie einschätzen können. Anti-Helden sind deshalb meist bessere Garanten für die Glaubwürdigkeit einer Geschichte als Wissenschaftler oder Politiker, deren Erkenntnisse das Publikum nicht wirklich beurteilen kann. Ein persönliches Schicksal, dass die Botschaft stützt, ist besser als eine Behauptung einer Autorität in einer abstrakten Position.
Ken Robinson präsentierte seinen Zuhörern mit Gillian Lynne eine Anti-Heldin mit hohem Sympathie-Faktor, mit deren tragischer Kindheit sich das Publikum sofort identifizieren konnte. Sie ist als Figur deshalb beweiskräftig, weil sie keinerlei Eigeninteresse an der Botschaft hat. Ihr Leben wäre einfacher gewesen, wenn sie den Anforderungen des Schulsystems entsprochen hätte. Stattdessen musste sie sich ihren Erfolg erkämpfen, und das ist ihr gelungen. Dadurch wird sie für das Publikum glaubwürdig. Die theoretische Aussage eines Bildungsforschers, dass man es im Leben auch mit einer schwierigen Bildungsbiografie zu etwas bringen kann, wäre dagegen eine bloße Behauptung gewesen – wenig glaubwürdig von einem Professor, dessen eigener Erfolg auf eben jenem Bildungssystem beruht, um das es geht.
Steigern lässt sich der Faktor Glaubwürdigkeit noch, wenn Sie selbst der Protagonist Ihrer Geschichte sind. Dann werden Sie zum fleischgewordenen Beweis für Ihre Botschaft und stehen sozusagen mit Ihrem guten Namen für die Wahrhaftigkeit der Geschichte. Das geht natürlich nur, wenn Sie sie auch tatsächlich selbst erlebt haben.

Merkmal 5: Emotional
Nur eine Geschichte, die die Zuhörer emotional erreicht, ist eine wirklich gute Geschichte. Sie ist viel effektiver als jedes Argument, das auf den Verstand abzielt. Doch was macht eine Geschichte emotional? Auch hier sind die handelnden Personen der Schlüssel zum Erfolg, denn sie personifizieren die Botschaft, geben ihr eine menschliche Dimension. Sie sorgen dafür, dass Ihre Zuhörer Ihr Anliegen auf einer Ebene verstehen, die mit Logik nicht zu bedienen ist.

Ein besonders wirkungsvoller Verstärker für eine Botschaft ist beispielsweise die Empathie. Sie können Ihren Zuhörern viele Fakten über die schreckliche Krankheit Parkinson erzählen, ohne sie emotional zu erreichen. Bringen Sie dagegen Muhammad Ali, den berühmtesten Parkinson-Kranken der Welt, ins Spiel, empfindet das Publikum unweigerlich Mitgefühl. Er verknüpft die Diagnose mit einem Schicksal.
So ist es auch bei Gillian Lynne: Als Ken Robinson seine Protagonistin rückblickend ihre Empfindungen bei ihrem ersten Besuch in einer Tanzschule zum Ausdruck bringen lässt, kann das Publikum gar nicht anders, als sich mit ihr zu freuen: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wundervoll das war. Wir kamen in diesen Raum, und er war voller Menschen wie mir. Menschen, die nicht still sitzen konnten. Menschen, die sich bewegen mussten, um zu denken.“
Dieser emotionale Moment, die Freude über die Erlösung des geplagten Kindes, brennt dem Publikum die Botschaft über die Fehler des Bildungssystems unauslöschlich ins Gedächtnis. Und genau das ist das Ziel des Storytellings.

Auf einen Blick: Der Story-Check
Es ist nicht das Talent, das aus einem Redner einen guten Storyteller macht, sondern das Wissen darum, was eine gute Geschichte ausmacht. Also: Haben Sie keine Angst vor großen Worten. Erzählen Sie Ihrem Publikum eine Geschichte! Um Ihnen den Einstieg zu erleichtern, hier noch einmal die Merkmale wirkungsvoller Storys auf einen Blick:
• Eine gute Story ist einfach gestrickt,
• enthält ein Überraschungsmoment,
• dreht sich um ein maximal konkretes Beispiel,
• stützt sich auf glaubwürdige Protagonisten und
• bietet dem Publikum einen emotionalen Anknüpfungspunkt.
• Je kürzer ein Wort ist, umso verständlicher ist es.
• Je kürzer ein Satz ist, umso verständlicher ist er.
Kommen Sie gut an!

Ihr René Borbonus


Die Merkmale wirkungsvoller Geschichten sind angelehnt an einige Aspekte effektiver Werbebotschaften aus: Was bleibt – Wie die richtige Story Ihre Werbung unwiderstehlich macht von Chip und Dan Heath, Hanser Verlag 2008.


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