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Plattformarbeit: frei, flexibel, ohne soziale Absicherung

Mehrheit der Plattformarbeiter schätzt ihre Art zu arbeiten, kritisiert aber die fehlende soziale Absicherung eines Normalarbeitsverhältnisses.
Kantar | 08.05.2019
© Unsplash / Sergey Zolkin
 
Die Bertelsmann-Stiftung stellte am 7. Mai auf der Konferenz re:publica19 mit Björn Böhning, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Carlos Frischmuth, Bundesverband für selbständige Wissensarbeit e.V., und Britta Redmann, Expertin für Arbeitsrecht, ihre Studie „Plattformarbeit in Deutschland“ vor.

Die von Kantar durchgeführte Studie liefert Antworten auf die zentralen Fragen in diesem Beschäftigungsbereich: Wie geht es Plattformarbeitern in Deutschland wirklich? Was halten sie von ihrer Tätigkeit und von der Digitalisierung? Insgesamt wurden rund 700 Cloud- und Gig-Worker sowie neun Experten befragt. Die Ergebnisse der repräsentativen Studie werfen gewohnte Bilder über den Haufen. Klare Botschaften an Politik, Institutionen der Tarifpartner und Plattform-Betreiber gibt es auch.

Vorherrschende Annahmen einem „Realitätscheck“ unterzogen


Die Diskussion über sogenannte Plattformarbeit ist in Deutschland sehr stark von Annahmen und Bildern bestimmt, die auf klassische Kategorien zurückgreifen wie "Arbeitnehmer", "Arbeitgeber", "abhängige Tätigkeit", "Scheinselbstständigkeit", "Solo-Selbständigkeit" und "prekäre Arbeit". Zugleich werden Cloud-, Click-, Crowd- oder auch Gig-Work gern als Synonym für eine digital dynamisierte Turbo-Marktwirtschaft und eine extrem verdichtete digitale Arbeitsweise betrachtet. Gerade in Zeiten fehlender sozialer Absicherung auf einem globalisierten Arbeitsmarkt im Netz kommt es aber darauf an, dieses Bild mit der Realität abzugleichen und zugleich empirisch zu unterfüttern.

Zwei zentrale Erkenntnisse


Die vorliegende Studie hat zu zwei wichtigen Erkenntnisse geführt:
• Plattformarbeit wird vom Großteil der dort auf diese Weise Tätigen sehr geschätzt wegen ihrer Flexibilität und der Möglichkeit zur freien Arbeitsgestaltung.
• Zugleich kritisiert eine deutliche Mehrheit der Plattformarbeiter stark die fehlende soziale Absicherung (Krankheit, Alter, Berufsunfähigkeit).

Innerhalb dieses Ergebnisraums ist es demnach an der Politik, den Tarifpartnern und den Interessenvertretern der Plattformarbeit, einen entsprechenden Regulierungsrahmen zu schaffen. Er sollte die genannten Vorteile dieser Form des Arbeitens aber keinesfalls konterkarieren.


Cloud- und Gig-Worker: Digital affin und an neuen Trends interessiert


Generell sind Plattformarbeiter (verstanden hauptsächlich als Cloud- und Gig-Worker) gegenüber der Digitalisierung der Arbeit deutlich offener eingestellt als der Durchschnitt der Berufstätigen (67 Prozent gegenüber 38 Prozent sehen Chancen) und stärker an den neusten Trends interessiert (68 Prozent gegenüber 34 Prozent). Besonders auffällig ist dies bei der Einschätzung mobiler Arbeit zum Zweck der Zeitersparnis und Effizienzsteigerung: 64 Prozent der Plattformarbeiter sehen diesen Zusammenhang, aber nur 24 Prozent aller Beschäftigten.

Weitere Daten weisen auf überraschende Ergebnisse hin:
• Der in Deutschland auf oder mithilfe einer digitalen Arbeitsplattform Tätige entspricht nicht dem Bild des prekären „Clickworkers“, wie es häufig in Diskussionen um prekäre und importierte Clickarbeit verwendet wird. Der Plattformarbeiter in Deutschland ist eher überdurchschnittlich qualifiziert und finanziell bessergestellt.
• So liegt der Anteil der Plattformarbeiter, deren gesamtes Nettoeinkommen pro Monat über 3.000 Euro liegt, mehr als doppelt so hoch im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung. Zugleich muss aber jeder vierte Plattformarbeiter mit weniger als 1.500 Euro pro Monat auskommen. 56 Prozent der Plattformarbeiter erzielen monatlich bis zu 400 Euro Einkommen mithilfe der Plattformen und wenden dafür durchschnittlich sechs Stunden pro Woche auf.
• In den allermeisten Fällen (99 Prozent) handelt es sich bei der Ausübung von Plattformarbeit um eine Nebenerwerbstätigkeit, die die Haupttätigkeit zeitlich und finanziell nur ergänzt.
• Dementsprechend sind die Flexibilität und die Freiheit in Sachen Arbeitsgestaltung auch die meistgenannten Vorteile.

Experten: Plattformarbeit hat viele Vorteile
Weitere Vorteile der Plattformarbeit, die speziell im offenen Interview von den Experten genannt wurden, sind die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, kollaboratives Erarbeiten von Lösungen und damit Demokratisierung der Arbeit, mehr Selbstbestimmung, Steigerung der Produktivität, der Innovationsfähigkeit und des Wohlstands

Nachteile bei sozialer Absicherung und Schutzrechten:
• Unzureichende Entlohnung und ständige Verfügbarkeit sind zwar ebenfalls genannte Nachteile dieser Form der Arbeit. Als größere Defizite werden jedoch die mangelnde soziale Absicherung und die fehlende Garantie von Schutzrechten angesehen.
• Den Befragten ist vollkommen klar, dass diese Nebentätigkeit nicht zur vollständigen sozialen Absicherung beitragen kann und dass hier politischer Handlungsbedarf besteht.

Wo Risiken lauern


Weiterhin wiesen die Experten, die unabhängig von den 700 Plattformarbeitern befragt wurden, auf folgende Risiken hin:
• ruinöser Wettbewerb zwischen den Plattformarbeitern
• erhöhtes Drohpotenzial gegenüben internen Beschäftigten
• fehlende Passgenauigkeit zwischen Plattformarbeit und den Vorschriften im Bereich traditionellen Arbeitens
• zu schnelle Abwanderung von Fachkräften in Richtung Plattformarbeit

59 Prozent der Plattformarbeiter sind „sehr“ oder „eher“ zufrieden


In Summe sind 59 Prozent der Plattformarbeiter „sehr“ oder „eher“ zufrieden mit dieser Form der Arbeit; nur acht Prozent sind nicht zufrieden. Plattformarbeiter wünschen sich vor allem eine bessere soziale Absicherung, die Regulierung des Preiswettbewerbs durch Festlegung von Mindestzahlungen, die Schaffung einer Interessen-vertretung und eine Art TÜV, der die Behandlung der Plattformarbeiter durch die Betreiber der Plattform überwacht.

Vorschlag: eine TÜV-ähnliche Kontrollinstanz einrichten


Die in Tiefeninterviews befragten Experten aus den Unternehmen schlagen vor, ...
• die auf Plattformen Arbeitenden an der Weiterentwicklung der Plattformen zu beteiligen,
• eine Transformationssicherung in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens zu garantieren,
• eine Sozialkasse für Plattformarbeiter einzurichten,
• die Möglichkeit auszuweiten, mobil zu arbeiten,
• die Schulung von Angestellten bezüglich digitaler Kompetenzen auszuweiten und
• eine TÜV-ähnliche Kontrollinstanz einzurichten

Politik und traditionelle Institutionen der Tarifpartner sollten neue Wege einschlagen


Die Experten legen besonderen Wert auf folgende Feststellung: Politik und traditionelle Institutionen der Tarifpartner müssen diese neue Gruppe der Plattformarbeiter in ihre Reformüberlegungen einbeziehen. Damit weisen die Vorschläge der Experten letztlich in eine Richtung der politischen Gestaltung, die aus den gewohnten Pfaden der Politikentwicklung und der Diskussion ausbricht und neue Wege einschlägt. So wäre es beispielsweise sehr hilfreich, wenn „hybrid Arbeitende“ als neue Gruppe der Erwerbstätigen in den Mikrozensus mit aufgenommen würden.

Hybride Arbeit kommt dem Wunsch nach mehr Flexibilität und Freiheit entgegen


Plattformarbeit in Deutschland ist damit insgesamt eindeutig nicht durch prekär arbeitende Menschen geprägt. Vielmehr bringt dieser Arbeitsbereich viele Chancen und Risiken zugleich für den Einzelnen mit sich. Plattformen, sei es Airbnb, Amazon Mechanical Turk oder Freelancer.com bieten Menschen zunehmend eine Chance, hybrid zu arbeiten und damit Interessen und eigene Vorstellungen von Arbeitszeitgestaltung und Einkommenserwerb umzusetzen. Diese mögen den traditionellen Arbeitsmarkt-Teilnehmern vielleicht fremd erscheinen. Sie kommen aber dem Wunsch nach Flexibilität und Freiheit dieser Menschen entgegen. Zugleich müssen diese Plattformen Verantwortung übernehmen, indem sie die Menschen, die auf ihren Plattformen arbeiten, an der Weiterentwicklung sozialer Schutzmechanismen beteiligen.